VOM ÖFFNEN ZUR ÖFFNUNG

von Shalini Randeria

Die Diskussionsreihe „Europa im Diskurs" ist Resultat der langjährigen Zusammenarbeit am Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) mit dem Burgtheater sowie dem STANDARD und der ERSTE Stiftung. Mehrmals jährlich bietet im Zuge dieser Kooperation das Burgtheater mit seinen stimmungsvollen Räumlichkeiten dem intellektuellen Austausch
zwischen führenden Expert*innen buchstäblich eine Bühne. Ein wesentliches Herzstück dieser Debatten ist also das Burgtheater: zum einen als Institution, doch darüber hinaus auch als physischer Raum, in dem Expert*innen und ein interessiertes Publikum zur Sonntagsmatinee zusammenkommen, um sich tiefgehend mit gesellschaftspolitischen Fragestellungen jenseits von Tagespolitik auseinanderzusetzen.
 

Architektur 2021
© Ruiz Cruz

Mitte März hatte ich die Freude, eine solche Debatte zur Bedeutung von globaler Solidarität angesichts der Knappheit von COVID-19-Impfdosen gestalten und moderieren zu dürfen. Wir Diskussionsteilnehmer*innen konnten uns physisch im prachtvollen Burgtheater einfinden. Dennoch fehlte dieses Mal etwas Entscheidendes: das Publikum. Zunächst war es ein befremdliches Gefühl, von der Bühne aus in einen völlig leeren Saal zu blicken und ein unsichtbares Publikum zu adressieren. Kurz nach der Debatte erfuhr ich jedoch, dass unser Live-Stream durchaus tausende Menschen erreichte, die zuhause eingeschaltet hatten. Was könnten wir also für die Zukunft aus der Ausnahmesituation Pandemie lernen?

 

Eine Lehre steht bereits fest: Viele Menschen haben eine große Sehnsucht nach körperlichen Theater- und Konzerterfahrungen

Eine Lehre steht bereits fest: Viele Menschen haben eine große Sehnsucht nach körperlichen Theater- und Konzerterfahrungen; ein Stream wird eine Live-Veranstaltung also nie einfach „ersetzen". In diesem Wissen und mit dieser Sicherheit möchte ich für die Zeit nach der Öffnung für eine Offenheit gegenüber hybriden oder experimentellen Formaten plädieren. Das letzte Jahr war für viele Kunstschaffende sehr herausfordernd. Kreativität war daher oftmals zur Existenzsicherung erforderlich. Diese erzwungene Anpassungsfähigkeit soll nicht schöngeredet werden, hat uns aber auch Möglichkeiten, etwa digital oder hybrid zusammenzukommen, aufgezeigt. In vielen Bereichen hat dadurch – oft als Nebeneffekt – eine Demokratisierung von gesellschaftlicher Teilhabe per Mausklick in virtuellen Räumen stattgefunden.

Auch wenn Theater, Universitäten und Museen sich als Räume der Begegnung und der öffentlichen Meinungsbildung verstehen und sich daher anwesende Gäste wünschen, gibt es dennoch strukturelle Hürden, die vielen den Zugang zu diesen Institutionen bisher erschwert haben. Eine Alleinerziehende wird schwer eine Sonntagsdebatte im Burgtheater besuchen können, sofern diese nicht online übertragen wird. Auch Menschen, die in ihrer Mobilität eingeschränkt sind, können seit Beginn der Pandemie schlagartig einer Vielzahl von Veranstaltungen beiwohnen, die für sie vorher oft nur schwer zugänglich waren. Gehörlose Menschen können bei Streams auf vielen Plattformen mit einem Mausklick automatische Untertitel-Funktionen aktivieren und dadurch nun eine Fülle von Veranstaltungen genießen, die vorher außer ihrer Reichweite lagen. Auch Ticketpreise können eine Hürde darstellen, die durch Gratis-Streams entfällt. Und zu guter Letzt ermöglicht online einschalten zu können, auch ein Herantasten an namhafte Institutionen und ihre Räume, was für all jene ein Einstieg sein kann, die womöglich nicht mit dem Selbstverständnis aufgewachsen sind, dass prachtvolle, traditionsreiche Kulturinstitutionen auch für sie da sind. Auch wenn unser „Publikum" dieser Tage leider zuhause bleiben muss, können wir mit Online-Technologien neue, vielfältige „Publika" erreichen. Die intensive, oft notgedrungene Nutzung von digitalen Medien im letzten Jahr zeigte neue Möglichkeitsräume auf. Diese gilt es auch nach einer Öffnung weiter auszuschöpfen, wenn es uns wichtig ist, nicht nur das treue Publikum wieder willkommen zu heißen – sondern darüber hinaus Räume zu schaffen, mit denen wir die physischen Grenzen unserer Institutionen überschreiten und vielfältigen Publika Teilhabe ermöglichen. Um es mit Ulrich Beck zu sagen: Es geht nicht um ein „Entweder-oder", ermöglichen wir ein "Sowohl-als-auch".

Shalini Randeria
Shalini Randeria
© IWM Klaus Ranger

Shalini Randeria

ist Rektorin des IWM, Wien

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