Shakespeares unbequeme Modernität
Die Kulturwissenschaftlerin Elisabeth Bronfen und die Bühnenbildnerin Muriel Gerstner haben die zwei großen Venedig-Stücke von William Shakespeare in einer dramatischen Welt um den Rialto vereint. Sebastian Nübling inszeniert diese Neubearbeitung und -übersetzung mit dem Titel THIS IS VENICE als großes Ensemblestück für das Burgtheater. Das besondere Augenmerk von Bronfen und Gerstners Verschneidung gilt der maroden patriarchalen und rassistischen Struktur von Venedig – und der Hartnäckigkeit, mit der sich diese Geld- und Kriegsmaschine trotzdem immer wieder dem Untergang widersetzt. Wie funktionieren die Mechanismen von Ausschluss und Abwertung „des Anderen“? Welche Rolle spielen darin die Väter-Töchter-Beziehungen? Ein Gespräch über Blood Relations im Früh- und Spätkapitalismus und Widerstand durch Emanzipation bei Shakespeares Frauenfiguren.
Muriel Gerstner: Die Initialzündung zu THIS IS VENICE stammt aus einem Buch zum KAUFMANN VON VENEDIG, das du mir vor Jahren als unbedingt lesenswert empfohlen hattest: Die Shakespeare-Forscherin Janet Adelman diskutiert in "Blood Relations" die groben und feinen Mechanismen des Ausschlusses, die ein gesellschaftliches System – hier das christlich und paternal geprägte Venedig – produziert, um das vermeintlich Eigene vom vermeintlich Fremden zu sondern. Sie benutzt in diesem Zusammenhang einmal beiläufig die Formulierung "Shakespeare’s Venetian plays", was sofort eine Vielzahl von interessanten Verknüpfungen zwischen den beiden Stücken freigesetzt hat, zum Beispiel die spiegel-bildlichen Töchter-Väter-Beziehungen oder die Produktion eines Sündenbocks, über dessen Stigmatisierung sich die Gesellschaft ihrer selbst vergewissert. Ein Mechanismus, dem sowohl der schwarze Feldherr Othello wie auch der jüdische Geldverleiher Shylock zum Opfer fällt und der in der Verschränkung der beiden Stücke deutlich stärker hervortritt.
Elisabeth Bronfen: Die Tragödie OTHELLO und die Komödie DER KAUFMANN VON VENEDIG haben prima vista nur den Ort Venedig gemein. Es gibt zwar bereits Inszenierungen, die sich den sogenannten roman plays widmen, weil sie um die Frage der Republik kreisen und natürlich die zu einem Bogen zusammengeführten Königsdramen- Produktionen um die Rosenkriege. Aber die Tragödie OTHELLO und die Komödie DER KAUFMANN VON VENEDIG werden nie zusammen gedacht.
Muriel Gerstner: THIS IS VENICE ist der Ausruf des Senators Brabantio, der nicht glauben will, dass seine venezianisch erzogene Tochter Desdemona mit Othello durchgebrannt ist. Man kann sagen, dass Shakespeare sowohl im KAUFMANN als auch in OTHELLO dieselben Ingredienzien in unterschiedlichen Gewichtungen und mit leicht verschobenen Vorzeichen durchspielt. Und diese sich durch eine Zusammenführung der Stücke unter dem Schlachtruf THIS IS VENICE als gesellschaftliche Mechanismen der Ein- und Ausschlüsse deutlicher herauskristallieren und beleuchten lassen.
Elisabeth Bronfen: Das ist die Wette! In der letzten Zeit ist mir immer klarer geworden, wie sehr Shakespeare seriell zu verstehen ist. Betrachtet man sein Werk als Ganzes, fällt einem auf: Er variiert ständig gewisse thematische Konstellationen, als suche er immerfort nach neuen Auflösungen ähnlich gelagerter Konflikte. Die beiden Stücke verhandeln die Autonomie des einzelnen Subjekts innerhalb eines stark durch Geld einerseits und andererseits durch Habitus geregelten Systems.
Muriel Gerstner: Das hat etwas mit den oft versteckten Codes zu tun, die die Venezianer – auch unbewusst – benutzen, um sich ihre gegenseitige Zugehörigkeit zu signalisieren, und die es ihnen dennoch erlauben, weltoffen zu scheinen, vermutlich sogar zu sein.
ELISABETH BRONFEN
ist Professorin für Angloamerikanische Kulturwissenschaft an der Universität Zürich. Sie ist die Autorin zahlreicher Bücher zu Shakespeare und seinem kulturellen Nachleben, u. a. "Tiefer als der Tag gedacht. Eine Kulturgeschichte der Nacht", "Liebestod und Femme Fatale" und "Crossmapping: Essays zur visuellen Kultur".
Elisabeth Bronfen: Im Sinne des französischen Soziologen Pierre Bourdieu, bezeichnet der Habitus „eingefleischte Gewohnheiten, Kenntnisse und Einstellungen“. Habitus prägt die Haltung, wie das Individuum die Welt um sich herum wahrnimmt, auf sie einwirkt und auf sie reagiert. Dabei ist entscheidend: Diese Verhaltensweisen werden von Leuten mit einem gemeinsamen Hintergrund – soziale Klasse, Religion, Nationalität oder ethnische Zugehörigkeit – geteilt. Sie sind gesellschaftlich und kulturell geformt, darüberhinaus aber derart verinnerlicht worden, dass man sie nicht als Codes wahrnimmt, sondern als von Natur aus gegebene Wahrheiten. Unter dem Motto, „follow the money“ könnte man übrigens auch den Geldfluss in beiden Stücken rückverfolgen. Am Ende von OTHELLO geht der gesamte Besitz des Feldherrn, also auch das, was Desdemona mit in die Ehe bringt, wieder nach Venedig zurück. Auch am Ende des KAUFMANNs fließt ein Großteil von Shylocks Hab und Gut in die Kasse Venedigs. Auch deshalb nennst du es ja mittlerweile die Venedig-Maschine.
Muriel Gerstner: Shakespeare hat mit Venedig ja die wichtigste europäische Handelsmetropole der frühen Neuzeit als Schauplatz gewählt. Ich stelle mir Venedig, das System Venedig, als eine um sich selber kreisende Maschine vor – einen stets mit Geld zu fütternden unersättlichen Automaten im Kern der nach patriarchalen Gesetzen funktionierenden Gesellschaft, der ziemlich viel Unruhe in Gang setzt, weil er zum einen auf die Mittel und Fähigkeiten der Nicht-Venezianer angewiesen ist, gleichzeitig aber nicht möchte, dass sich die Töchter der Stadt mit diesen Fremden vermischen. Und die Schwierigkeit dieses Venedigs liegt eben darin, dass es das Geld, welches die Fremden in die Stadt bringen, unbedingt haben will, aber die Fremden umstandslos auch wieder loswerden möchte. Das erzeugt verschiedene Probleme: Dieser dauernd vollführte Spagat zwischen signalisierter Gastfreundschaft und vollzogener Abwehr führt zu den ganzen Komplikationen, die dann zu den rigorosen Ausschlüssen unliebsamer Personen führen. Der Spielraum ist also für diejenigen, die offen gegen das System rebellieren oder schlicht nicht dazu gehören, nicht sehr groß. Othello wird zwar gerne als Kriegsführer beschäftigt, eine Tochter der Stadt möchte man aber nicht mit ihm verheiratet wissen. Und die Frauen werden verstanden als Handelsware, die den Fortbestand der Nachfolge garantieren sollen, wogegen sich alle im Stück vorkommenden Töchter mit unterschiedlichem Erfolg wehren.
Elisabeth Bronfen: Othello, Desdemona und ihr Vater Brabantio enden in der Tat tragisch. Die Ausgangslage von Shylock und seiner Tochter Jessica ist vollkommen symmetrisch zu der Ausgangslage von Brabantio und dessen Tochter Desdemona: Die rebellierenden Töchter fliehen nachts aus dem Haus ihrer Väter, um den Mann ihrer eigenen Wahl zu heiraten.
MURIEL GERSTNER
studierte Bühnenbild bei Axel Manthey an der Hochschule für angewandte Kunst in Wien. Mit dem Regisseur Sebastian Nübling und dem Musiker Lars Wittershagen verbindet sie eine enge Zusammenarbeit und ca. 50 Produktionen, mit Elisabeth Bronfen ein steter Austausch, seit sie deren Studie "Nur über ihre Leiche – Tod, Weiblichkeit und Ästhetik" als Quelle für einen Bühnenbildentwurf genutzt hat.
Muriel Gerstner: Es gibt allerdings einen grundsätzlichen Unterschied. Für den gleichen Umstand, die öffentlich geführte Klage um und gegen die abtrünnige Tochter, wird der geachtete Senator Brabantio bemitleidet und der geächtete Jude Shylock verhöhnt.
Elisabeth Bronfen: Allerdings muss auch Brabantio erfahren, dass seine Intervention gegen Othello beim Dogen abprallt, ist dieser doch nur daran interessiert, sich im Angesicht einer drohenden türkischen Invasion Othellos Kriegskünste zu versichern. Und Jessica endet nicht wie Desdemona als schöne Leiche, muss aber aushalten, dass sie als Konvertitin niemals wirklich in der venezianischen Gesellschaft akzeptiert werden wird. Die ambivalenteste und effektivste Methode des Widerstandes gegen das väterliche Gesetz verdanken wir Portia, ausgerechnet der Figur, die wie keine andere mit dem väterlichen Gesetz verbunden ist. Man könnte sagen, dass im Gegensatz zu Jessica und Desdemona, die gegen ihre lebenden Väter rebellieren, indem sie sich gegen deren Werte stellen, der tote Vater Portias eine Chiffre ist für das reine Gesetz Venedigs. Und Portia eine klare Vorstellung davon hat, dass sie die patriarchale Struktur nur mit der richtigen Vorgehensweise und vollkommen gesetzeskonform aushebeln kann.
Muriel Gerstner: Gerade weil Portia die Gesetzescodes Venedigs derart verinnerlicht hat und auf dieser Klaviatur blind zu spielen versteht – wieder ein Fall von Habitus – gelingt ihr die Umschrift von innen heraus, und zwar mit den Mitteln der Maschine, nicht gegen sie.
Elisabeth Bronfen: Sie kann laut dem letzten Willen ihres Vaters zwar den eigenen Ehemann nicht wählen, sondern muss denjenigen heiraten, der das richtige, nämlich das bleierne Kästchen wählt, und das heißt, ihm ihren ganzen ererbten Besitz übergeben. In unserer Bearbeitung haben wir aber das Spiel mit dem Ring verschärft, und lassen Portia den Erbschleicher Bassanio gleich nach seiner triumphalen Wahl unverblümt wissen: Verliert er diesen Ring, bedeutet dies, alles zu verlieren. Also nochmals ein Glücksspiel, das Bassanio aber nicht ernst nimmt. So kann sie am Ende des Stückes ihren Besitz erfolgreich zurückfordern und herrscht als Souveränin über alle.
Muriel Gerstner: Portia an Stelle des Dogen und Desdemona als Leiche auf der Bühne. Ich sehe auch hier wieder eine Art Spiegelung, verstärkt durch das Spiel mit den wandernden Requisiten: hier der Ring als Treuepfand, der verschiedene Stationen durchläuft und Portia in die Hände spielt und dort das Taschentuch, Othellos Gabe an Desdemona, das Jago so geschickt für seine Zwecke einzusetzen weiß und zum fatalen Ende führt.
Elisabeth Bronfen: Unser Fokus bleibt auf der Verschränkung eines systemischen Rassismus mit einem ebenso tief verwurzelten systemischen Sexismus. Da lässt sich auch nichts auflösen oder beschönigen. Diese beiden Ausschlussmechanismen spielen natürlich auch gegenseitig gegeneinander. Mal rückt der Rassismus gegen Othello oder Shylock mehr in den Vordergrund, mal eine Misogynie, die auf der Ausblendung der eigenständigen Position der Frauen basiert. An der Leiche Desdemonas verdichten sich die fatalen Konsequenzen von zwei unterschiedlichen und zugleich miteinander verschränkten Beispielen einer traumatischen Historie: die des Rassismus und die der häuslichen Gewalt.
Muriel Gerstner: Hier greift Shakespeares unbequeme Modernität besonders deutlich. Die inneren Turbulenzen des Systems verweigern eine klare Auflösung und somit Absolution. Die Maschine dreht einfach weiter. Wir müssen uns diese mechanisierten Ausschlussmechanismen immer wieder bewusst machen.
Elisabeth Bronfen: „The whole vast messy enterprise of culture“, so nennt das Stephen Greenblatt in seinem Artikel Shakespare’s cure for Xenophobia. Das Unbehagen darüber, dass es keine eindeutige Schuldzuweisung geben kann, dass es zugleich aber auch keine eindeutige Entlastung gibt, gilt es zu ertragen.