ZWISCHEN HOFFEN UND VERGESSEN
Ich frage mich seit einiger Zeit, wann ich zum letzten Mal ganz unbeschwert im Kino, im Theater oder in einem Club war. Wo das war. Mit wem das war. Wie das war.
Für diesen Essay wäre es nicht ganz unwichtig, mich zu erinnern. Schließlich wollte ich über die Zeit schreiben, als es noch Kultur gab. Also so richtig. So ganz in echt. Kein Stream und kein Live-Event, das sich alles andere als live anfühlt. Abende, an denen ich nicht nur eine Hose anzog, sondern auch noch den letzten Knopf schloss.
Erinnern Sie sich? Damals als man noch zufällig bekannte Menschen traf.
Also mache ich das, was von einem Millennial erwartet wird. Ich schaue meine Posts auf Instagram vor einem Jahr durch. Finde Fotos von Concealer und schwafle irgendetwas über Müdigkeit und von sozialer Überforderung. Schließlich schluckte ich an diesem Abend im Februar meine Müdigkeit mit sehr viel Wein runter, packte meine Freundinnen ein und wir tanzten die ganze Nacht im Club U. Im Untergeschoss des Otto Wagner Pavillons am Karlsplatz saßen wir auf den abgeranzten, olivgrün tapezierten Sofas, bis uns jemand auf die Tanzfläche zerrte.
Erinnern Sie sich? Damals als man noch zufällig bekannte Menschen traf. Sich freute, sie umarmen und angreifen konnte, ganz ohne schlechtes Gewissen. Das zerbrochene Glas auf den Retro-Fliesen am Boden krachte, obwohl Shakiras „Whenever, Wherever” laut aus den Boxen schallte. Die Diskokugel warf viele kleine Lichter auf betrunkene Gesichter, die kunstvoll geschminkt waren.
Hätten wir gewusst, dass das Virus schon längst im Land war, wären wir vermutlich nach Hause gegangen. So ärgerte ich mich aber darüber, dass mir jemand sein halbes Getränk über mein Gewand geleert hatte. Wäre mir klar gewesen, dass das mein letzter Clubbesuch für über ein Jahr sein sollte, hätte ich an meiner klebenden, nach fremdem Schweiß und gottverdammtem Long Island Icetea stinkenden Kleidung gerochen und es genossen. Zwei Tage später testete man übrigens zum ersten Mal Menschen in Österreich positiv auf das Coronavirus.
Als hätte ich Angst, zu vergessen, wie das war, als wir lebten.
Seit ich mich wieder an diesen Abend erinnere, spiele ich ihn immer wieder durch. Jedes Detail. Als hätte ich Angst, zu vergessen, wie das war, als wir lebten. Wenn mich diese Angst nicht loslässt, spaziere ich durch die Straßen Wiens und schaue mir die Gebäude an. Die einmal mehr waren als die Namensgeber für U-Bahn- und Straßenbahnstationen. Mehr als ein Treffpunkt, um sich zum Spazierengehen zu verabreden. Sie waren Orte der Begegnung, der Kunst, der Kultur, des Menschseins. Durch die Pandemie mussten wir diese Ort aufgeben. Nicht auf Dauer, sondern nur bis es besser wird, versprach man uns. Schließlich stirbt der Mensch nicht wegen fehlender Kultur. Zumindest nicht sofort. Ich behaupte nicht, Antworten zu haben, wie Kultur trotz der Pandemie besser funktionieren könnte, ohne Menschen zu gefährden. Aber die Leere tut weh. Es fehlt so vieles, auch wenn ich manchmal gar nicht festmachen kann, was genau.
Kein Leben, keine Lichter, dafür ein „Geschlossen”-Zeichen.
Auf der Ringstraße steigen Menschen in die Bim, das Gebäude im Hintergrund wirkt wie ein leerstehender, geparkter Tanker. Ich spaziere auf dem Rathausplatz und blicke auf das Burgtheater. Kein Leben, keine Lichter, dafür ein „Geschlossen”-Zeichen. Dann steige ich am Karlsplatz bei der U-Bahn aus, nur um in den Club hineinzuspähen. Ich frage mich, wann wieder zerbrochenes Glas unter meinen Schuhen kleben wird. Davor skaten junge Menschen. Drinnen ist alles still. Das Licht der Neonröhren ist seit Monaten aus.
Mittlerweile ist es mir übrigens wieder eingefallen. Mein letzter Kinobesuch war im Votivkino, auf der Leinwand lief „Parasite". Mein letzter Theaterbesuch war im Burgtheater, ich sah DER EINGEBILDETE KRANKE. Nie hätte ich gedacht, dass beides kurze Zeit später eine komplett andere Dimension hat.
Eva Reisinger
hatte immer Angst, etwas zu verpassen, und so verließ sie die Provinz, um in Wien Journalismus zu studieren. Sie war Österreichkorrespondentin für Ze.tt, schrieb für NEON, ZEIT, VICE und die Wiener Zeitung. Sie isst tatsächlich am liebsten Schnitzel, geht nicht gerne wandern, und landet doch immer wieder am Berg.
Eva Reisingers Buch: „Was geht, Österreich? Eine Landjugend mit Wodkabull und dem Herrgott" erschien im Jänner bei KiWi und sie hofft, im Sommer endlich daraus vorlesen zu können. So ganz in echt.