Wir, völlig außer uns
Der Theaterwissenschaftler Sebastian Kirsch über Thomas Köcks ANTIGONE. EIN REQUIEM, die verdrängte Figur des Chors und Antigone als Skandalgestalt.
Nachdem im letzten Jahr die Kapitänin Carola Rackete mit dem Rettungsschiff „Sea Watch 3“ gegen den Widerstand der italienischen Behörden in den Hafen von Lampedusa eingefahren war, an Bord 42 aus dem Mittelmeer gerettete Bootsflüchtlinge, konnte man immer wieder auf die eine Schlagzeile stoßen:
„Antigone aus Kiel: Deutsche Kapitänin gegen Italiens Salvini“
Berliner Tagesspiegel
„Carola Rackete, modern-day Antigone, obeys a law higher than Salvini‘s“
Il Manifesto
„Carola Rackete, la capitana della Sea Watch, è la nostra nuova Antigone“
Noi Donne
Nun ist, wie man sagt, nicht alles ein Vergleich, was hinkt, und wenn man sich nicht von der Kraft der Bilder blenden lässt, dann stellt sich auch in diesem Fall schnell Skepsis ein. Was soll die Rede von der „nuova Antigone“ bringen? – abgesehen von ein wenig bildungsbürgerlicher Selbstversicherung? Ist sie mehr als der Ausdruck fragwürdiger Held(inn)enbedürfnisse? Und verdeckt andererseits die Überblendung des Rechtspopulisten Salvini mit dem tyrannischen Kreon nicht, dass der damalige italienische Innenminister nur ein besonders unsympathischer Vertreter einer Migrationspolitik war, hinter der in Wahrheit die gesamte Europäische Union steht? Das sind sicherlich richtige Einwürfe. Allerdings berühren sie nicht die Frage, wieso diese Antike- Assoziation sich hier offenbar aufdrängte – zumal dieses Phänomen sich in den letzten Jahren öfter beobachten ließ. So galt auch für Greta Thunberg ein notorischer Antigone-Vergleich (vielleicht kein Zufall, dass Rackete mittlerweile ebenfalls als Klimaaktivistin bekannt ist). Aber auch die erstaunliche Anzahl von Antike-Bearbeitungen, die das Theater jüngst gesehen hat, gehört hierher: die zahlreichen Versuche, heutige Asylfragen mit Aischylos‘ Tragödie „Die Schutzflehenden“ zu verknüpfen etwa, oder die Spiegelung der gegenwärtigen Krise parlamentarischer Politikformen in Euripides‘ „Bakchen“ (so bei Elfriede Jelinek oder Ulrich Rasche). Ausgerechnet im Zentrum dieser beiden antiken Stücke stehen im Übrigen Frauengestalten, die ihrerseits dem Typus Antigone ähneln: die fünfzig flüchtigen Danaiden bei Aischylos, die Dionysos-Anhängerinnen bei Euripides.
warum
liegen die da die toten das
sind doch viel zu viele die da jetzt liegen schafft sie weg man
will das doch nicht sehen
Auch Thomas Köcks ANTIGONE. EIN REQUIEM steht in der Reihe der genannten Antike-Bearbeitungen. Ich weiß nicht, ob Köck diese „Rekomposition“ der Sophokles-Tragödie schon geschrieben hatte, bevor das Bild der „Carola Antigone Rackete“ sich verbreitete, aber es ist auffällig, dass sein größter Eingriff in die Vorlage dem offensichtlichsten Unterschied zwischen dem antiken Stoff und dem Geschehen auf dem Mittelmeer entspricht: Nicht den Bruder Polyneikes will die Antigone von 2020 nämlich begraben. Stattdessen richtet ihr skandalöses Handeln sich auf eine unüberschaubare Vielzahl toter Körper, die beständig am Strand von Theben angeschwemmt werden. Der Blick wird also von dem einen Bruder, dessen Körper in die Erde zurück soll, auf die unbestimmten Vielen umgelenkt, deren pure Anwesenheit Europa heute offenbar vor allem als Schock erlebt, an dem es täglich kläglicher versagt.
warum
liegen die da die toten das
sind doch viel zu viele die da jetzt liegen schafft sie weg man
will das doch nicht sehen
So ruft Köcks Chor darum zu Beginn, in einem Chorlied, das überhaupt dem Schrecken der Vielzahl gilt:
wir hier
berichten völlig außer uns dass
alles am ende einfach viel zu viel am
ende einfach alles viel zu viel von allem
zu viel zeit zu viel zu tun …
ein leben lang von allem viel zu viel …
Köck sagt von diesem Chor, dass er „nicht Beiwerk“ sei, sondern das Stück überhaupt erst „aus ihm heraus“ funktioniere. Diese ist darum die zweite markante Geste seiner Rekomposition, die diesmal eigentlich keinen Eingriff in Sophokles‘ Tragödie bedeutet, sondern eher deren langer Rezeptionsgeschichte gilt. Denn speziell der Chor der „Antigone“ wurde in der Tat oft zum Beiwerk degradiert, auf dessen Rolle man sich noch weniger einen Reim zu machen wusste als es bei anderen antiken Stücken der Fall war. Manchmal strich man ihn sogar ganz. Köck dagegen sagt: „Alles fängt beim Chor an und endet dort auch wieder.“ (Allerdings steht er mit seiner Aufwertung des Chores natürlich nicht alleine da: Gehört es doch zu den auffälligsten Tendenzen neuerer Antike-Bearbeitungen, sich immer wieder in besonderer Weise für diese so rätselhafte Theater-Instanz zu interessieren.)
Antigone als Typus, die schockartige Erfahrung einer unüberschaubaren Vielzahl, der Chor als Anfang und Ende – so ließen sich also die drei Brennpunkte definieren, um die Köcks Requiem kreist. Aber wie hängen sie eigentlich zusammen, und, noch einmal, warum werden sie heute überhaupt zur Frage?
Vielleicht ist es an dieser Stelle erlaubt, kurz auf dem Terrain der klassischen Philologie zu wildern und einen von heute aus sehr interessanten Aspekt der altgriechischen Sprache ins Spiel zu bringen. Diese kannte nämlich, anders als moderne europäische Sprachen, anders aber auch als das jüngere Latein, neben dem Aktiv und dem Passiv eine explizite grammatische Formenbildung für ein drittes „genus verbi“: das sogenannte „Medium“. Das Medium drückt, vereinfacht gesagt, aus, dass eine Handlung sich auf den Handelnden selbst bezieht. „Ich wasche mich“ wäre demnach die Übersetzung einer medialen Verbform, im Gegensatz zu „Ich wasche jemanden“ und „Ich werde gewaschen“. Allerdings hat das Medium noch sehr andere, fremdartigere Funktionen. Zum Beispiel dient es – so definierten es die Stoiker – zum Ausdruck von Tätigkeiten, die man nicht „aktiv“ im Sinn einer starken, projektiven Intentionalität nennen kann, die sich aber schon aufgrund ihrer Hartnäckigkeit und Beharrlichkeit auch nicht auf das Passivum reduzieren lassen. Wenn wir sagen, dass „Holz arbeitet“, erfasst dies ein wenig den Charakter der medialen Eigenaktivität, die man darüber hinaus (und das ist hier kein Zufall) heute vor allem als Thema der Ökologie kennt: Die beharrliche Arbeit der Meere, der Wüsten, der Berge …
wir hier
berichten völlig außer uns dass
alles am ende einfach viel zu viel am
ende einfach alles viel zu viel von allem
zu viel zeit zu viel zu tun …
Anders gesagt, fungiert das Medium als sprachlicher Indikator einer Tätigkeit, die auf einer ganz anderen Ebene liegt als der eines starken Subjekts. Deswegen übersieht das Subjekt die mediale Eigenaktivität aber auch so leicht, all ihrer Beharrlichkeit zum Trotz. Wenn darum im Rahmen einer Geschichte, die Aktiv und Passiv immer strikter entgegensetzte (und die letztlich schon in der klassischen griechischen Antike selbst begann), das Medium seines ausdrücklichen Orts verlustig ging, so hallt darin die systematische Ausblendung einer ganzen Tätigkeits-Sphäre selbst wider. Ohne diese Verdrängung wären aber zum Beispiel auch die europäischen Expansionsbewegungen und die Kolonialgeschichte späterer Jahrhunderte gar nicht möglich gewesen. Denn diese beruhten nicht zuletzt auf der Selbsterhöhung zur aktiven Kraft gegenüber einem als passiv angesehenen Rest-Globus.
Heute dagegen, am anderen Ende dieser Expansionsgeschichte, lässt sich beobachten, dass fast tagtäglich und in unterschiedlichsten Formen Phänomene mit neuer Vehemenz auftreten, die an die mit dem Medium bezeichnete Sphäre denken lassen. Das Klima ist ein Beispiel hierfür, die nicht abreißende Zahl flüchtiger Menschen, von denen es häufig heißt, sie seien „namenlos” und bildeten eine unüberschaubare „Welle”, ein anderes. Und in beiden Fällen gehört zum Erschrecken, den ihre als „neuartig“ empfundene Unübersehbarkeit auslösen kann, das gleichzeitige Erkennen, dass sie in Wahrheit schon immer da waren:
die
toten kommen jetzt zurück die
von unseren urvätern verursacht wurden
Aber das ist noch nicht alles, denn das Medium hat noch einen weiteren bemerkenswerten Aspekt: Es dient auch in sehr spezifischer Weise zum Ausdruck von Ereignissen mit hohen Affektwerten. Die mediale Form „klaiomai“ zum Beispiel wird für gewöhnlich als „Ich weine um mich, für mich“ übertragen. Folgt man aber Sprachforschern wie dem Linguisten Emilé Benveniste, dann ließe sich das besser so übersetzen: „Es geschieht mir Weinen.“ Das heißt, dass „klaiomai“ ein Weinen meint, das so intensiv und zerreißend ist, dass es die eine weinende Person übersteigt. Es ist ein Weinen ohne Anfang und Ende, ein Weinen, das sich gewissermaßen mit all den virtuellen Tränen verkettet, die je geweint wurden und die man noch weinen wird. Kurz: In diesem Weinen weinen letztlich alle anderen mit; es ist ein plurales Weinen, eine Klage der (und des) Vielen selbst.
Es ist nun frappierend, dass all diese Eigenschaften des Mediums bei näherem Hinsehen Momente bezeichnen, die auch für den Tragödienchor typisch sind. Der weder aktive noch passive Handlungsmodus, die beharrliche Anwesenheit, die Nähe zu intensiven Affektereignissen wie dem Weinen, das stärker ist als die eine Person und darum auf unbestimmte Pluralformen führt: All das erinnert direkt an die Chöre, die wir aus den erhaltenen Stücken kennen (die aber nicht bei diesen beginnen, denn der Chor ist älter als die Tragödie). Das heißt aber umgekehrt: Wenn später, letztlich schon bei Euripides, der Chor zum immer größeren Rätsel werden sollte und in den neuzeitlichen Perspektivbühnen zusammen mit der Orchestra (als der eigenen Bühne des Chores) selbst aus dem Theater verschwand, so kann man darin das theatergeschichtliche Pendant zur Verdrängung der medialen Sphäre sehen. Versuche, das Theater „aus dem Chor heraus“ zu verstehen, zeigen sich insofern immer wieder von der Frage getragen, wie diese lange Geschichte überhaupt zu unterlaufen wäre.
Führt von hier aber auch ein Weg zur Skandalgestalt Antigones? Durchaus; allerdings ist es ein weiterer Umweg. Er beginnt mit der Erinnerung an eine andere wirkmächtige Oppositionsbildung, die erst das „klassische“ griechische Zeitalter durchsetzte, d.h. das 5. vorchristliche Jahrhundert: die strikte innere Aufteilung der griechischen „polis“ nämlich, die den politischen Raum (den Raum von „polis“ selbst) und den eingezirkelten Haushalt gegeneinander absetzte und damit eine Zweiteilung schuf, von der sich noch die neuzeitliche Unterscheidung von „öffentlicher“ und „privater“ Sphäre ableitete. Schon in der „polis“ waren die beiden Räume zudem klar geschlechtlich konnotiert, mit den politiktreibenden (freien) Männern auf der einen Seite und den Frauen als Verwalterinnen des „oikos“ auf der anderen.
Es ist nun nicht schwer zu sehen, dass die problematische „polis-oikos-Paarung“ letztlich eine andere Version des Aktiv-Passiv-Dualismus darstellt. Und zwar umso mehr, als auch sie eine Geschichte hat, die sich als Verengung einer älteren Dreier-Konstellation beschreiben lässt. In diesem Fall ist die dritte Größe, die zu „polis“ und „oikos“ hinzugezählt werden müsste, das, was der griechische Begriff „kosmos“ anzeigt: keine strikte übernatürliche Ordnung, wie sie erst das Christentum erfand, sondern eher ein Ausdruck für die wechselseitige Verflochtenheit alles Lebendigen. Antigone wiederum kann tatsächlich als eine Gestalt gesehen werden, die innerhalb der sich durchsetzenden dualistischen Rahmenbedingungen auf der Unhintergehbarkeit dieser „kosmischen“ Verflochtenheit beharrt:
auch eure mauern
werden fallen an
anemonen und korallen,
sagt sie bei Köck darum, oder:
das
sind nicht irgendwelche toten ihr
seid das die
da vorübertreiben ihr drin
im anderen.
Diese Art Wissen verbindet Antigone letztlich mit dem älteren Chor selbst. Aber auch dass sie es als weibliche Gestalt artikuliert, verweist auf ihre Herkunft aus einer anderen, schwer greifbaren historischen Schicht; einer Schicht, auf der – um es in unzumutbarer Verkürzung zu sagen – Weiblichkeit stärker mit „kosmos“ selbst verbunden gewesen zu sein scheint.
Hinzuzufügen bleibt, dass diese dritte, „kosmische“ bzw. „mediale“ Sphäre in der Antike natürlich mythologisch durchzogen war. Jenseits dessen ist mit ihr aber die Frage einer Relationalität verknüpft, die sich den Logiken von Staat und Haus von Grund auf entzieht. Diese Frage ist heute, in anderer Form und unter den Bedingungen annähernder digitaler Globalvernetzung, auch die unsere. Und es gehört zu den merkwürdigsten Phänomenen der letzten Jahre, dass es in der Tat häufig an den Typus Antigone erinnernde junge Frauen gewesen sind, deren Aktivismus – vielleicht würde man ihn besser „Medi-ismus“ nennen – sich an diese Frage geheftet hat.
Sebastian Kirsch
geb. 1980, ist Theaterwissenschaftler, derzeit Feodor Lynen-Stipendiat an der New York University, USA, und seit 2018 Privatdozent an der Ruhr- Universität Bochum. Außerdem journalistische (Theater der Zeit, 2007– 2013) und dramaturgische Tätigkeiten (u.a. mit Hans-Peter Litscher und Johannes Maria Schmit). Zuletzt erschienen „Das Reale der Perspektive“ (2013) und „Chor-Denken. Sorge, Wahrheit, Technik“ (2020).