Nieder mit den Alpen, freie Sicht auf's Mittelmeer
Auf die Frage „Worauf sind Sie besonders stolz in Österreich?“, antwortet die überwiegende Mehrheit der Befragten seit Jahrzehnten an erster Stelle: „Unsere Natur.“ Besonderen Nationalstolz wecken in Österreich die Berge. Sich an der belebten und gebauten Umwelt zu erfreuen, kann ein relativ harmloses Vergnügen sein. Ein überaus gebildeter Wiener Spitzenbeamter, den ich kurz nach der Matura kennenlernte, pflegte beispielsweise bei Überquerung der Stadtgrenze (es reichte aber auch ein Besuch der Donauinsel) stets fröhlich auszurufen: „Kinder, mir san am Gelände.“ Oft gefolgt von: „Tief einatmen! Ist gratis.“ Ich fand seine Worte zum Schießen komisch, doch in seiner humorvollen Bemerkung schlummerte nicht ein Körnchen Wahrheit, sondern ein ganzes Gebirge. Und mehrere Jahrhunderte.
Bis weit ins achtzehnte Jahrhundert hinein erschienen die Alpen in Reiseberichten überwiegend als düster, häßlich, bizarr, trostlos und bedrohlich.
Bei dem Gebirge handelt es sich um die Alpen und zu ihrer modernen Wertschätzung war es ein langer Weg gewesen. Über Jahrhunderte war die Gebirgsregion als „grausenvoll“, „erschröcklich“, „unwegsam“, als „abscheuliche Wildnis“ beschrieben worden. Bis weit ins achtzehnte Jahrhundert hinein erschienen die Alpen in Reiseberichten überwiegend als düster, häßlich, bizarr, trostlos und bedrohlich. Nicht schroffe Felswände, sondern sanfte, kultivierte, liebliche Parklandschaften waren das Ideal der damaligen Zeit. Im Verlauf des achtzehnten Jahrhunderts machten sich Dichter wie Albrecht von Haller an eine neue Darstellung der alpinen Natur: Das Leben der Gebirgsbewohner*innen bestehe aus viel knochenbrecherischer Plackerei und einigen gesunden Vergnügungen (sportliche Wettkämpfe, freie Liebe). Die Bergketten schützten die einfachen Menschen vor den schädlichen Einflüssen der Zivilisation. Die Kargheit der Landschaft hielt sie zudem gleich mittellos, weshalb sich Habgier und Herrschsucht nicht verbreiten konnten. Deshalb war es hier auch nicht notwendig viel zu lesen, denn die Natur trat in der aufklärerischen Naturdichtung als Schule des Lebens auf: arm, aber gesund – körperlich ebenso wie moralisch.
Auf die Dichtung folgte die bildende Kunst, die das Gebirgsmassiv im neunzehnten Jahrhundert als malerisch schön in den Blick nahm. Junge Klimawissenschaften wiesen zur allgemeinen Überraschung nach, dass bestimmte Alpenregionen mehr Sonnentage aufwiesen als südländische Kurorte. In der Medizin hatte sich alpine Luft als heilsam herausgestellt, die ersten Alpensanatorien machten sich an die Kommerzialisierung der Luft. Während lange Zeit Sorgen über die weitläufige Verbreitung von "Idiotie" und Alkoholmissbrauch unter den Bewohner*innen der gebirgigen Regionen vorgeherrscht hatte, setzte sich allmählich Einigkeit über den spirituellen, medizinischen und kommerziellen Wert der Berge durch.
Nach dem Zerfall der Donaumonarchie wurden mit der Geburt der Alpenrepublik die Berge wieder wichtiger denn je – denn Wien lag nun am Gebirge.
In der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts fanden sich immer mehr Menschen zur körperlichen Genesung, zur geistigen Wiedergeburt, zur Entspannung, zum Sport und zur Inspiration in den Alpen ein. Möglich war dies nicht zuletzt durch neue Verkehrswege, die hunderte Ingenieure entworfen und an denen tausende Arbeiter geschuftet hatten. Die Vielzahl an Straßen und Stützmauern, Eisenbahnen und Tunnels, Brücken und Viadukten machten den kostspieligen Besuch der Alpen nicht nur praktikabel, sondern ließen ästhetisch und moralisch aufgeladene Landschaften entstehen, wo vorher nur Gegenden geherrscht hatten. K.u.K. Ingenieur Joseph Baumgartner, der dabei eine wichtige Rolle gespielt hatte, konnte nun stolz den „Zickzack des neuen Straßenbaus, der das Ganze in einer schönen und freundlichen Landschaft vereint“ bewundern.
Im kulturell, sprachlich, ökonomisch und landschaftlich vielgestaltigen Habsburgerreich war gerade diese immense Vielfältigkeit Grundlage der Österreich-Ideologie: Nur versammelt unter einem gemeinsamen Haus Österreich konnte die Diversität von Kultur und Natur positiv geraten. Ohne österreichische Führung und den rettenden Kompass der deutschen Kultur würden die vielen miteinander hadernden Völker und zersplitterten Landstriche allesamt den Bach hinuntergehen. Nachdem sich das Herrscherhaus endgültig von großdeutschen Ambitionen verabschieden hatte müssen, nahm es für kurze Zeit verstärkt die mitteleuropäische Orientierung einer Donaumonarchie ein. Im „Kronprinzenwerk“ wurden Land und Leute enzyklopädisch dargestellt. Die Einleitung schrieb Kronprinz Erzherzog Rudolf selbst und gab hier den, heute etwas vulgärmaterialistisch anmutenden, inhaltlichen Zusammenhang wie folgt an: „Das Volksleben und die Volkseigenthümlichkeiten, wie sie entstanden sind und wie sie sich erhalten, zusammenhängend mit dem Charakter des Landes, mit Klima und der Natur und der Bodengestaltung.“
Nach dem Zerfall der Donaumonarchie wurden mit der Geburt der Alpenrepublik die Berge wieder wichtiger denn je – denn Wien lag nun am Gebirge. Der austrofaschistische Prestige-Bau schlechthin, umgangssprachlich „Großglocknerstraße“ genannt, verband nicht nur Kärnten und Salzburg, sondern war Teil einer größeren Strategie: Die Schaffung einer symbolischen Gebirgslandschaft als Heimat von Ordnung, Sicherheit, Familie und Religion. Gegen die Künstlichkeit der großstädtischen Hochkultur wurde die Natürlichkeit volkstümlicher Kultur in Stellung gebracht.
Hitler empfing die alpinistischen Mannsbilder, es regnete Gold und Ehrungen.
Der Nationalsozialismus trieb die Ideologie einer schicksalshörigen Nation, die an der Erhabenheit der Bergwelt teilhatte, indem sie sich an ihre Bezwingung machte, weiter auf die Spitze. Ein besonderer Propaganda-Coup glückte kurz nach dem Anschluss Österreichs an Deutschland: Die Erstbesteigung der als schwierig geltenden Eigner-Nordwand, für die Adolf Hitler bei den Olympischen Spielen in München zwei Jahre zuvor eine Goldmedaille ausgelobt hatte. Woran vorher alle gescheitert waren, gelang endlich nachdem sich ein österreichisches Team auf dem Berg einer überlegenen deutschen Seilschaft angeschlossen hatte. Es schien als hätten Wotan und die Natur der deutschen Herrenrasse Recht gegeben, indem sie die politische Geschichte als montanes Schaustück wiederholte. Arische Alpenvereine jubelten, Arthur Seyß-Inquart kam mit dem Versenden von Glückwunsch-Telegrammen nicht nach, Hitler empfing die alpinistischen Mannsbilder, es regnete Gold und Ehrungen.
1934 ...1938 ... 6 Million Problems, but the Alps ain´t one
Nach dem Ende des NS-Regimes wurde die schöne österreichische Natur zum wesentlichen Leitbild des Tourismus und der öffentlichen Selbstwahrnehmung. Das 1948 vom Bundespressedienst herausgegebene „Österreichbuch“ zelebrierte den österreichischen Landschaftsmythos so exzessiv wie es nur Menschen in Gefangenschaft können. Österreichs Landschaft war nun nicht mehr Wehranlage gegen den Osten, wie im Austro- und NS-Faschismus, sondern wieder eine völkerverbindende Brückenlandschaft. Die vorherigen Anfeindungen wurden nun übersteigert ins Positive gewendet: „Gotische Phantasie, hellenistischer Esprit, keltische Formenlust, slawische Schwere des Gemütes, verbunden durch die Träume des Ostens.“
Als die Vier im Jeep abgezogen waren, beruhigte sich das Staatsgemüt wieder. Die zweite Republik folgte fortan dem Script der Bundeshymne und besang wieder das Gebirge (Land der Berge), danach erst die Donau (Land am Strome) und eine produktive Landwirtschaft (Land der Äcker) innerhalb einer katholischen Geografie (Land der Dome).
In zahllosen Heimatfilmen der Nachkriegszeit wurde die österreichische Natur in grell verkitschten Farben als heile Welt präsentiert. Das von jahrzehntelangen Niederlagen und Schmähungen gekränkte österreichische Nationalbewusstsein genoss im reinen Heimatfilm wohltuenden Urlaub von der verschmutzten Geschichte. Denn wenigstens machte der Held des Heimatfilms (zumeist Luis Trenker) als Sohn der Berge immer alles richtig. Heimat ist im harmlos wirkenden Heimatfilm immer der Berg, die Landschaft. Ständestaat und Nationalsozialismus sind zwar Geschichte, der Almrausch heiler Landschaften dauert aber bis heute an. Daran änderten weder die Besetzung der Hainburger Au im Jahr 1984, noch der Einzug der Grünen ins Parlament zwei Jahre danach etwas Substanzielles.
Heimat, Spargel, Land Art
Das österreichische Landschaftsbild erlebte historische Wandlungen von habsburgisch-monarchistisch über deutsch-österreichisch und germanisch bis zu österreichisch. Dabei wurde Natur zu besonderen Formen von Landschaft und diese zu wechselnden Versionen von Heimat. Diese Prozesse sind keineswegs abgeschlossen oder säuberlich voneinander zu trennen. Ihr vielstimmiges Echo ist auch in aktuellen Debatten zu vernehmen. Fragen von Natur und Landschaft sind dabei niemals unschuldig, denn sie erzeugen Vorstellungsräume dessen, wer in diese Landschaft passt und was ihr „artfremd“ ist. Welcher Mensch, welches Tier, welche Pflanze wird dabei zum Fremden?
Manchmal werden auch unbelebte Gegenstände zu Störern landschaftlicher Ordnung. So fühlen sich immer mehr Menschen von Windkraftanlagen irritiert. Kritik an den gigantischen Minaretten des grünen Kapitalismus kann eine ganze Reihe legitimer Gründe haben. Oft wird man den Eindruck jedoch nicht los, dass die Kritik an der „Verspargelung“ der Landschaft durch die weißen Riesen auf einem problematischen und historisch verseuchten Bild schöner Landschaft beruht, das die ordentliche Aussicht (und davon abhängige Grundstückspreise) aus Garten und Eigenheim wichtiger als alles andere nimmt.
Es soll zudem Menschen geben, die Prachtbauten von Leuten, die ihr Geld mit dem Tod und Elend vieler anderer verdienen, als erheblich störender wahrnehmen als es eine Windkraftanlage je könnte.
An Gipfelkreuzen stoßen sich die wenigsten, schließlich fügen sie sich in eine traditionelle Landschaftsästhetik ein. Auch scheint der Bau asphaltierter Straßen kaum jemanden zu erbosen, solange sie nicht zu sehr von denjenigen in Anspruch genommen werden, von denen man nichts direkt hat. Es soll zudem Menschen geben, die Prachtbauten von Leuten, die ihr Geld mit dem Tod und Elend vieler anderer verdienen, als erheblich störender wahrnehmen als es eine Windkraftanlage je könnte. Auch sind ökokapitalistische Infrastrukturen wie Windkraftanlagen keineswegs vor Kritik gefeit. Sie könnten aber auch mehr werden als sie heute sind. Zum Beispiel als Ausgangspunkte von Land Art, die uns hilft eine neue Welt, die wir bei Strafe des Untergangs brauchen, sinnlich und reflektierend vorstellbar zu machen.
All und alle
Die Wahrnehmung der Umwelt und ihre Beurteilung sind nicht nur individuell gefärbt und historisch gewachsen, sondern auch von gesellschaftlicher Situiertheit angeleitet. Von Astronaut*innen wird beispielsweise oft die Aussage kolportiert, wie verletzlich klein und kostbar die blaue Murmel vor der leeren Schwärze des Alls wirke. Aus dem Weltraum sehe man keine Grenzen, die die Menschen trennten. Als der erste schwarze Astronaut die Erdkugel aus dem All beobachtete, vernahm man von ihm die Verwunderung, dass alle Grenzen, die Menschen trennten, hier unsichtbar wurden.
Wenn man in einer Wiener Schule hört „Sie ist auf den Berg gegangen“ meint dies nicht, dass jemand nicht vom Skikurs zurückgekehrt war oder sich wo eingegraben hatte, um zu sich selbst zu finden, sondern, dass ein Mädchen aus einer kurdischen Familie alles stehen und liegen gelassen hatte, um sich dem aussichtslos erscheinenden Kampf gegen eine übermächtige Armee anzuschließen. Für Bergromantik bleibt hier wenig Platz.
Der Mundgeruch der Natur
Bei Natur verhält es sich so wie bei allen anderen Fragen: Wer ihre Neutralität betont, möchte den eigenen Zugriff als objektiv, sachlich, unideologisch darstellen. Doch auch bei Fragen der Natur zeigt sich: Ideologie ist wie Mundgeruch, das haben immer die Anderen. An der Entstehung des Mundgeruchs haben übrigens Mikro-Organismen einen nicht unwesentlichen Anteil. Natur ist uns näher als wir oft meinen. Ideologie und Ästhetik reichen sich bei den großen Fragen der Natur genauso die Hände wie bei den kleinen.
Auch das Haifischlächeln hat eine Geschichte. Als in der modernen Zahnmedizin historisch die Frage auftauchte, welches der richtige, gesunde, schöne Winkel sein sollte, an dem sich Korrekturen der Zahnstellung orientieren konnten, wurde man lange Zeit nicht fündig. Das liegt daran, dass Zähne und ihre Stellung im Kiefer sich unterschiedlichen Essgewohnheiten und Nahrungsmittelerfordernissen anpassen. Als man keinen allgemeinen Maßstab finden konnte, griff man in der Zahnmedizin auf Darstellungen griechischer Gottheiten zurück. Außerirdische, die es nie wirklich gegeben hat, dienen bis heute überall auf der Welt als Vorbild für Eingriffe in den Mundinnenraum von Kindern, denn die scheinbar neutralen, modernen medizinischen Standards wurden überallhin exportiert.
Nature Today
Heute wird Natur als ein Ort präsentiert, der uns anmahnt uns hinsichtlich unseres „ökologischen Fußabdrucks“ selbst lückenloser zu überwachen als es Geheimdienste und Google je könnten. Dabei werden gesellschaftliche Fragen individualisiert, moralisiert und entpolitisiert. Natur gilt vielen weiterhin als eine beruhigende Landschaft, die aufgesucht wird, um Urlaub vom komplexen, politischen Tohuwabohu der modernen Welt zu machen. Natur erscheint als Kulisse, wo ein neues Spießertum das narzisstische „sich selbst Finden“ als Erfahrungstümelei zelebriert. Natur bleibt weiterhin ein Ort, wo ein Teil von ihr (selten, nützlich, mythisch) auf Kosten eines anderen (schädlich, hässlich, problematisch) privilegiert wird.
Denn je brisanter eine politische Frage, desto wichtiger ist es dabei nicht zu verkrampfen.
Die Berge wurden nach 1968 zum Objekt der Politisierung. Österreichische Maoist*innen hatten den – heute irrwitzig erscheinenden – Plan, Bergbauern und Bergbäuerinnen zu organisieren, um das Gebirge zum transnationalen Ausgangspunkt der Revolte zu erheben. Wenig überraschend scheiterte das Unternehmen, die kulturellen Effekte des Experiments waren aber noch lange danach zu bemerken. Auf ungefähr dieselbe Zeit wird die Geburt der dadaistischen Parole „Nieder mit den Alpen, freie Sicht aufs Mittelmeer“ datiert. Punks und Hochschuljugend strebten damit nicht die Planierung des Hochgebirges an, sondern wollten eine kulturelle und politische Aneignung artikulieren. Diese humorvolle Weitung des Vorstellungshorizonts wäre heute wünschenswert. Denn je brisanter eine politische Frage, wie heute die der „ökologischen Krise“, desto wichtiger ist es dabei nicht zu verkrampfen. Wer allzu fest zupackt, beschädigt dabei womöglich den Gegenstand und kann außerdem nicht mehr loslassen.
In der Botanik
Zu entkrampft sollte es in der Politik freilich nicht zugehen, wie in jüngster Zeit bestimmte Vorgänge der österreichischen Innenpolitik eindrucksvoll unter Beweis stellten. Beim „Ibiza-Skandal“ waren nach landläufiger Meinung, neben vielem anderen, auch zwei Pflanzen beteiligt: Weinrebe und Cocastrauch. Nach dem Koalitions-Ende blieb von der Übergangsregierung in Teilen der Bevölkerung als bleibender Eindruck vor allem die massive Einschränkung des öffentlichen Konsums einer dritten Pflanze – Tabak.
Natur ist offensichtlich nicht nur passiver Gegenstand politischer Einflussnahme, sondern auch widerspenstige und schwer fixierbare Akteurin des Politischen.
Fahim Amir
ist Wiener Philosoph und Autor. Seine zuletzt erschienene und mit dem Karl-Marx-Preis 2018 ausgezeichnete Streitschrift SCHWEIN UND ZEIT (Nautilus, 2018), wurde in die ZEIT/ZDF-Sachbuchbestenliste aufgenommen und von der Frankfurter Buchmesse und dem Goethe-Institut zu einem der besten Bücher des Jahres 2019 gewählt.