Brief aus... #1: Maribor
Burgtheater-Schauspieler Daniel Jesch steht derzeit in der dreisprachigen Koproduktion "Die Nacht, als ich sie sah" von Drago Jančar auf der Bühne des Nationaltheater Maribor, Slowenien. Im Frühjahr 2022 wird die Produktion auch im Akademietheater zu Gast sein. Dem Burgtheater Magazin hat Daniel Jesch aus Maribor einen Brief geschrieben.
Da sitz ich also in Maribor: 250 Kilometer weit von zu Hause entfernt, in meiner Theaterwohnung in der Ribiška ulica. Ich höre dem Lärm von der Baustelle gegenüber zu. Maribor – das klingt immer ein bisschen wie aus einem Märchen. Maribor. Mutabor. Und auf eine gewisse Weise ist es das auch für mich, ein Märchen. Aber von vorn.
Ich weiß nicht mehr, der wievielte Tag des wievielten Lockdowns es war. Und ich weiß auch nicht mehr, im wievielten Zoom-Treffen mit den immer gleichen Gesichtern auf meinem Bildschirm ich mich befand – Augen, die mich aus ihren Wohnzimmern heraus in meinem Wohnzimmer anblickten. Es war in einem dieser Treffen, als ich meinem Direktor Martin Kušej gesagt habe: „Ich kann nicht mehr, ich will nicht mehr untätig herumsitzen – ohne Perspektive, ohne irgendwas.“ Gerade war Corona-bedingt ein Stück abgesagt worden ("Tristesses" – tolle Rolle, tolle Kolleg*innen). Eine Aufgabe. Endlich wieder spielen, ein Ziel vor Augen. Und dann … wieder nichts. Ein paar Tage später rief mich Martin an. Er habe da etwas, ein Projekt, ein Abenteuer. Ob ich mir das vorstellen könne? „Ja, sofort“, habe ich gesagt, noch bevor er weitersprechen konnte. Das sei in Slowenien. Oh. Eine Inszenierung nach einem Roman von Drago Jančar, "Die Nacht, als ich sie sah", sie brauchen einen Deutschen, einen Nazi. Naja, Nazi, einen Wehrmachtsoffizier. „Ja klar, mach ich, alles, auch einen Nazi!“ Nur raus aus meiner Lethargie, aus dem Stillstand, aus dem ewigen Gezoome. Nach dem Telefonat hab ich das Buch gelesen, nochmal gelesen. Groß!
Ein paar Wochen später habe ich dann Janez getroffen, den Regisseur, Janez Pipan. Auf einer Bank vor dem Theater. Dort in Maribor. Im Regen. „Ich habe Angst“, hat er gesagt, „vor dem Projekt, vor der gesamten Unternehmung.“ Drei Sprachen, drei Theater (Slowenisches Nationaltheater Maribor, Yugoslav Drama Theatre Belgrad, Burgtheater Wien). Da hab ich ihn ins Herz geschlossen. Angst, das kenn ich, damit kenne ich mich aus.
Das Stück gelesen und besprochen: die meisten Schauspieler*innen auf Slowenisch, zwei auf Serbisch, ich auf Deutsch. Ein babylonisches Sprachgewirr. Und trotzdem haben wir uns verstanden.
Wieder Wochen später haben wir dann begonnen. Das Stück gelesen und besprochen: die meisten Schauspieler*innen auf Slowenisch, zwei auf Serbisch, ich auf Deutsch. Ein babylonisches Sprachgewirr. Und trotzdem haben wir uns verstanden. Klar, ich hatte Barbara an meiner Seite, meine Dolmetscherin und Übersetzerin. Aber vieles musste sie mir gar nicht übersetzen, weil ich es auch so verstanden habe, ohne Worte. Die Sprache im Theater ist überall sehr gleich. Englisch, Deutsch, Slowenisch, Serbisch. Alles unter einem Dach. Und gemeinsam erzählen wir eine Geschichte. Von Veronika, von Leo, von Frau Josipina und von Joži, von Horst und von Jeranek und von all den anderen, die dort von dem slowenischen Nationaldichter Jančar aufgeschrieben sind. Wir lachen viel, auch wenn die Themen eher traurig machen könnten. Der Zweite Weltkrieg, Partisanen, Mord, Verrat, ein Wehrmachtsoffizier. Nach einer Probe sagt Nejc, ein slowenischer Partisane, zu mir, dem deutschen Offizier: „Denk mal nach, wenn wir damals gelebt hätten, wir hätten uns bekämpft, in echt, bis aufs Blut.“ Da stehen wir also in der Garderobe, zwei Schauspieler nach einer Probe, in unseren Unterhosen, und sind für einen Moment ganz still. Dann macht jemand einen Witz. Die Stille löst sich, wir lachen miteinander, ziehen uns an und gehen unserer Wege.
Ich kann nicht sagen, wie viele Kilometer ich gelaufen bin, entlang der Drava, Drau, am Uferweg entlang. Flussaufwärts, dann zurück. Und immer mit den Texten auf den Lippen, die Drago Jančar mir geschrieben hat. Horst Hubmayer, Offizier der deutschen Wehrmacht. Laut vor mich hin sprechend, gestikulierend, auf der Suche nach dem Sinn des Gesagten. Einmal, tief im Uferwald – ich hatte es gerade lautstark von Soldaten, Wehrmacht, Exekutionen – da hab ich meinen Blick gehoben und sah mich einer Unbekannten gegenüber, der Schrecken stand ihr im Gesicht. Naja, was sollte sie sich denken? Mitten in Slowenien, im Wald, im Irgendwo. Ein Deutscher, der auf Deutsch von Wehrmacht und Gestapo spricht. Schwarz gekleidet, wie halt immer, mit dunkler Sonnenbrille und mit meinem Bart. Ich glaube, so verlegen habe ich selten sonst gelächelt. Bin dann ganz schnell ganz still weiter. Die Proben liefen gut. Auch mit den Kolleg*innen war es toll. Mit offenen Armen haben sie mich aufgenommen. Wir haben viel geredet. Privates, Politik, Arbeit. Das Stück, es wuchs und wurde. Drei Akte, drei Sprachen. Auf einer Bühne. Toll. Auch Drago Jančar hat es wohl gefallen, zumindest hat er uns das gesagt, nach einem Durchlauf. Und dann kam die Premiere. Volles Haus. Gespielt mit aller Energie, die zur Verfügung stand, nach sieben Durchläufen in den Endproben hintereinander. Nicht unser bester Durchgang, aber gut. Trotzdem, die Leute sprangen auf, als das Stück vorbei war. Sie standen, riefen „Bravo“, applaudierten. Minutenlang. Da ist uns was gelungen. Wie wird das wohl in Belgrad auf Gastspiel werden? Und erst in Wien, im Akademietheater?
Vom Burgtheater hat es mich an das Drama Maribor verschlagen. Kakšna sreča! – Welch ein Glück!
Daniel Jesch
(*1974) erhielt seine Schauspielausbildung an der Theaterhochschule Zürich. Seit der Spielzeit 2000/01 gehört Jesch dem Ensemble des Burgtheaters an. Neben seiner Tätigkeit am Theater ist Daniel Jesch auch in zahlreichen Film- und Fernsehproduktionen zu sehen.